Im Jahre 1997, in der Frühzeit des Die drei ???-Revivals, konnten die Mitarbeiter*innen des Franckh-Kosmos-Verlags dessen 175. Geburtstag feiern. Nun haben sie die nächste, beachtlich runde Jubiläumszahl erreicht und so spendiert sich Kosmos neben einer Ausstellung im StadtPalais, dem Museum zur Stadtgeschichte Stuttgarts (inkl. Eröffnung mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann) gleich zwei eigenständige Buchprojekte, in denen die 200-jährige Verlagsgeschichte im Mittelpunkt steht - zum einen in herkömmlicher Form ('... von nicht verklungener Wirkung ...' 200 Jahre Verlagsgeschichte im Spiegel der Zeit), zum anderen eben auch als Comic. Nicht ganz unwichtig: beide Publikationen sind im Buchhandel käuflich zu erwerben - und ja, Kosmos feiert sich hier im Grunde selbst, so dass nicht nur die klassische Verlagschronik, sondern auch der bunte Comic Unternehmenshistorie, Produktmarketing und Imagepflege miteinander verquirlt.
Eben dies ist in Das rätselhafte Archiv auf vorzügliche Weise gelungen. Die im Laufe der 200 Jahre angehäufte Verlagsgeschichte mitsamt ihren vielen einzelnen Geschichten in Comic-Panels inszenieren zu dürfen - das ist für sich genommen bereits eine Leistung. Anvertraut wurde diese innovative Aufgabe Anja Herre und Christopher Tauber, der uns als Zeichner und/oder Skriptautor hinter allen bisherigen Die drei ???-Graphic Novels ebenso wohlbekannt ist wie Anja Herre, hat sie doch in den 2010er Jahren als zuständige Redakteurin die Geschicke der Juniordetektei gelenkt, dabei u.a. das großartige Buch Die drei ??? und die geheimen Bilder organisiert und auch weiterhin bis heute als Lektorin viele Bände begleitet.
Das rätselhafte Archiv folgt - Zeitsprünge nicht ausgeschlossen - im Großen und Ganzen dem Narrativ der konventionellen Verlagschronik, nimmt sich aber die Freiheit, alle wichtigen Stationen und Wendepunkte der Unternehmenshistorie so nachzuerzählen, dass sie nicht chronologisch abgefrühstückt, sondern stets dann aufgerufen werden, wenn es dem Plot zuträglich oder gar förderlich ist. Die großen Linien, schlaglichtartig präsentierte Bestseller und viele kleinere Histörchen ziehen auf mehr als hundert Seiten vorbei, stets verwoben mit der im Heute angesiedelten Rahmenhandlung, zu deren Beginn die nichts wissende Anja von der allwissenden Archivmaus Irmela - ganz ähnlich wie beim weißen Kaninchen in Alice im Wunderland - in ein verborgenes Reich gezogen wird: ins Kosmos-Firmenarchiv.
Wird einem praktisch zwangsläufig auf nahezu jeder Seite auch ein gerüttelt Maß Eigenwerbung untergejubelt, so nutzt der Comic wiederum jede nur erdenkliche Gelegenheit, feierliche Langeweile oder gar Ehrfurcht gar nicht erst aufkommen zu lassen und vieles gegen den Strich zu bürsten. Die hierfür gewählten erzählerischen Mittel und die Bildsprache sind variantenreich, entsprechen den jeweils anstehenden Themen und verbinden sich mit den erfreulich frischen Dialogen und Einfällen für simple Gags und hintersinnigen Witz zu einem sehr vergnüglich kommentierten Trip durch die 200 Jahre. Neben den noch ganz anders ausgerichteten Anfangserfolgen im 19. Jahrhundert, den Naturwissenschaften ("Der heiße Scheiß um die Jahrhundertwende") und den Spielen (neben Die Siedler von Catan erscheint auf einmal Sherlock Holmes Criminal-Cabinet ebenfalls als Gamechanger) kommen natürlich auch die Kinder- und Jugendbücher nicht zu kurz - allen voran die drei ???.
Wer in der Materie drinsteckt, wird hier nichts Neues finden, aber so amüsant inszeniert gab es das noch nicht: ein Highlight, auch weil man merkt, wie sehr den beiden Aiga Raschs Anteil an der Serie hierzulande am Herzen liegt, was denn auch auf vier der sieben Seiten gewürdigt wird (freilich mit dem Schönheitsfehler, dass Aigas Erstling Die drei ??? und der Fluch des Rubins mit dem späteren Cover und nicht mit dem allerersten von 1970 gezeigt wird), während außer Robert Arthur alle Autor*innen unsichtbar bleiben und die Hörspiele nur im Hintergrund dudeln. Überhaupt bemühen sich Herre und Tauber nach Kräften, in der patriarchalisch dominierten Verlagsgeschichte ("Mann Mann Mann!") wenigstens einige prägende Frauen und somit neben History auch Herstory zu finden.
Der Comic wagt sich noch mehr nach vorn bzw. weit zurück, wenn die Protagonistinnen in einer starken Episode - "Tja, wo Licht, da auch Schatten." - längst eingemottete Publikationen vom Archivstaub befreien und halb amüsiert, halb entgeistert feststellen müssen, über wie viele altmodische Nicht-Klassiker (Man wird dich lieber haben. Anstandsbuch für junge Damen) die Zeit hinweggegangen ist. Gleichwohl widmen sich diese Seiten nicht allen dunklen Kapiteln der Verlagsgeschichte: die Jahre 1933-1945 werden nicht inmitten des aufgewühlten Archivstaubs - immer noch eine perfekte Metapher für alle in Vergessenheit geratene oder verbannte Dinge - zu Tage gefördert, sondern sie dräuen unvermittelt und im Erzählfluss vergleichsweise spät in Form grauer Kriegsruinen und Abbildungen von ab 1933 publizierten Büchern. Anja und selbst Irmela verschlägt es die Sprache. Intern wird im Verlag sicherlich diskutiert worden sein, wie die nationalsozialistischen Jahre darzustellen sind - das Ergebnis wirkt seltsam unausgegoren. Ja, man hat sich entschlossen, es nicht verschämt auszuklammern, sondern vielmehr einige Franckh'sche Brechmittel jener Zeit zu zeigen. Andererseits bleibt der Comic damit an der Oberfläche, zumal die Protagonistinnen ihre Sprache nicht wiederfinden.
Ein nüchterner Anmerkungstext versichert, dieses Thema sei sehr wichtig, aber hier nicht so umfassend abzubilden, wie man es für angemessen halte, weshalb auf die eigentliche Verlagschronik verwiesen wird, die sich "ausführlich" damit auseinandersetze und "mehr in die Tiefe geht". Das ist aller Ehren wert, zielt aber leider ins Leere, denn eben dieses Versprechen wird in der Verlagschronik nicht eingelöst, weil dort zu viele Fragen offenbleiben oder gar nicht erst gestellt werden. Das ist keineswegs dem Comic anzulasten, lässt die Leerstelle in Das rätselhafte Archiv aber umso deutlicher klaffen. Käufer*innen des Comics könnten sich fragen, wieso sie in eine 200-Jahre-Verlagsgeschichte investiert haben und nun gebeten werden, sich für das vermeintlich vollständige Bild inkl. 12-jähriger NS-Zeit ein weiteres Buch zuzulegen. Wie dem auch sei - auch wenn der Comic hier herumdruckst, er thematisiert das Herumdrucksen immerhin.
Parallel zum Wiederaufbau ruft Archivmaus Irmela uns Die Höhlenkinder in Erinnerung - die Meilensteine der Produktpalette von Franckh und Kosmos werden wirklich überall dort eingebaut, wo sie halbwegs oder wie die Faust aufs Auge passen. Das wohlüberlegte Konzept, möglichst nicht in selbstgestellte Fallen dröger PR zu tappen, sondern diese nur in homöopathischen, dramaturgisch sinnvollen Dosen zu verabreichen, trägt die Handlung bis zum Schluss und klingt nachts im Archiv mit den drei !!! und einer völlig durchgeknallten Parodie auf die EXIT-Spiele aus. Im wie ein Fremdkörper drangehängten Epilog entgleitet dem Comic die Balance allerdings doch noch ein wenig, als auf der Party zum 200. Geburtstag eine Jubelorgie steigt - doch selbst dieser Eigenlob-Konfettiregen lässt sich hier und da dezent ironisch ausbremsen und auf halbwegs erträgliches Hochglanz-Maß herunterschrauben.
Zu guter Letzt gebührt Anja Herre und Christopher Tauber höchste Anerkennung dafür, dass sie ihre Verlagsgeschichte genau dort inszeniert haben, wo sie seit Jahrzehnten verwahrt worden ist: im Archiv. Dass ein Archiv in einer Erzählung als positive, spannende Erlebniswelt in Szene gesetzt wird und sogar den Titel ziert, ist beileibe nicht selbstverständlich - weder in fiktiven Geschichten, noch im Archivwesen, wo sich alle Archivar*innen diesen Comic näher betrachten und für die eigene Öffentlichkeitsarbeit und Archivpädagogik gerne mehr als eine Scheibe abschneiden mögen - Bob Andrews gefällt das!
Der Comic schließt im allerletzten Panel mit einem augenzwinkernden "Fortsetzung folgt ..."-Kästchen, natürlich gemünzt auf die künftige Verlagsgeschichte ab 2022. Bleibt die Frage, ob auch Anja Herre und Christopher Tauber mitsamt ihrem rätselhaften Archiv eine Fortsetzung mit weiteren Comicfolgen vergönnt sein könnte, um einzelne Projekte in ihrem Werdegang genauer unter die Lupe, auf die Schippe und auseinanderzunehmen und gewisse Fangemeinden gezielt anzusprechen? Zuvörderst denken wir natürlich an eine Die drei ???-Editionsgeschichte mitsamt Aiga Rasch: einen solchen Comic würden viele Fans dem Verlag womöglich aus den Händen und Archivmauspfoten reißen ...
Sven Haarmann (rocky-beach.com), 18.07.2022
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